Kriegskinder

Wenn ich Euch (meine Senioren) besuche, werde ich mit einer Umarmung begrüßt, wie ein Familienmitglied. Ich sehe die Freude in Euren Gesichtern, wenn ich da bin. Ihr blüht auf und wollt mir Eure Geschichten erzählen. Wenn ihr gut drauf seid, sind sie positiv, wenn es Euch nicht so gut geht, sind sie traurig und dann verdrücken wir alle ein Tränchen. Oft sind sie spannend und ich stelle viele Fragen. Manchmal wiederholen sie sich auch. Aber es sind persönliche Lebensgeschichten, die in keinem Buch stehen und von denen man im Geschichtsunterricht nichts erfährt.

Bei Euch habe ich meinen festen Arbeitsplatz und mir wird immer gesagt: „Mach ganz in Ruhe!“ Ich kriege mein Wässerchen, telefoniere, terminiere und administriere. Wir drehen unser Ründchen und freuen uns über das Wetter und die Jahreszeiten. Wenn es mal regnet, ist es nicht so schlimm, denn: „Weiter, wie bis zur Haut geht’s nicht“. Wir genießen den Frieden und spazieren (ganz in Ruhe). Auch getanzt haben wir schon so ganz spontan – was für ein schönes Leben.

Wenn ich Euch besuche, erfahre ich alles, was wirklich wichtig ist im Leben, denn Eure Geschichten, Eure Sehnsüchte, Eure großartigen und traurigen Erinnerungen, ähneln sich. Und auch wenn wir in Zeiten leben, die verschiedener kaum sein könnten, zeigt Ihr mir, dass wir Menschen alle ziemlich ähnlich ticken. Nur die Bühne ist halt eine andere.

Ihr alle seid keine Jammerlappen. Ihr musstet oft das Leben so hinnehmen, wie es war. Es war in seiner Einfachheit kompliziert. Über Probleme wurde selten offen gesprochen. Die Familie hatte damals einen anderen Stellenwert. Frauen hatten wenige Freiheiten und noch weniger Rechte. Aber man half sich untereinander.

Oft bin ich voller Bewunderung darüber, was Ihr alles geschafft habt, weil Ihr keine Wahl hattet. Und ich bin voller Empörung darüber, dass Euch das Leben heute im Alter so schwer gemacht wird.

Wenn ich gehe, bedankt ihr euch für meine Zeit und sagt mir, ich solle bloß gut auf mich aufpassen. Draußen drehe ich mich um und schaue zurück zu Euch, weil wir uns noch so lange winken, bis wir uns nicht mehr sehen können.

Ich bin erfüllt mit tiefer Dankbarkeit. Ja, es stimmt: „Glück verdoppelt sich, wenn man es teilt.“ Dabei war es nicht mehr, als ein wertschätzender Umgang miteinander. Ich war einfach nur da, hatte ein offenes, respektvolles Ohr und ein paar liebevolle Worte, genau wie umgekehrt. Es ist so leicht.

Wie könnte ich diese Arbeit nicht lieben?