Musik vs. Wut

Nächste Woche werde ich extra in eine andere Stadt fahren, um eine Band meines Herzens nach vielen Jahren wieder einmal live zu sehen. Die Band trug mich in meiner Jugend mit ihrem Sound und ihren Lyrics durch die wilde Welt. Gestern hörte ich in die alten Lieblingssongs rein. Ich habe sie sehr lange nicht mehr gehört und jeden Song genossen, doch mit all den überbordenden Gefühlen von damals, konnte ich mich nicht mehr identifizieren. Was ist passiert? Mir fiel auf, dass ich nicht mehr wütend bin. Ist das Resignation?

Wut war für mich immer der pure Treibstoff. Aber sie raubte mir auch Energie und überdeckte oft das Schöne in meinem Leben. Ich war eine sehr wütende Teenagerin und gehörte zu den Menschen, die sich fortwährend fragten: WARUM? Meine Augen sahen eine Welt, die ich nicht verstand, sie war für mich nicht logisch. Schlaflose Nächte, endlose Grübeleien, Schultage in Trance. Eine übermächtige Last wollte mich erdrücken. Ich schämte mich für Handlungen sehr vieler Menschen und fühlte mich dadurch mitverantwortlich, für alles, was auf unserem Planeten falsch läuft. Meine Wut war riesengroß, lähmte mich oder fraß mich fast auf. Ich fühlte mich allein und brauchte Antworten. Wohin, mit diesem Weltschmerz?

Eines Tages bei Freunden. Im TV lief gerade ein Musikfestival. Ich war plötzlich wie gebannt. Die kraftvolle Stimme einer Frau auf der Bühne shoutete den Fans ihr „Open your eyes“ entgegen. Dies war mein persönlicher Erweckungsmoment. Ihre Energie übertrug sich sofort auf mich und ich spürte GLÜCK. Ich hatte ein Ventil für meine Wut gefunden, es war diese Art von Musik und ihre Lyrics. Von nun an war mein Weg geprägt von Musik. Ich hörte mir Platten an, studierte Booklets und Lyrics und ging auf etliche Konzerte. In der Musik, also maßgeblich durch die Lyrics, fühlte ich mich verstanden und bestärkt – auch heute noch.

Die Lyrics im Zusammenspiel mit den Instrumenten verliehen meiner Wut und all meinen anderen Gefühlen Ausdruck im Tanz. Alles, was sich unter der Woche in mir anstaute, rockte ich an den Wochenenden aus mir heraus. Und das in einer großen Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Es war meine Art der Therapie. Ich fühlte mich danach frei, klar und handlungsstark. Und somit konnte ich mir meine Weltoffenheit und Gefühlsbereitschaft bewahren.

Wenn Du wissen willst, wie gefühlsbereit Du bist, geh einfach mal auf ein Konzert. Das Feeling ist wahrscheinlich gut zu vergleichen mit einem spannenden Fußballspiel oder einer Demonstration. Viele Menschen für eine Sache, das ist eine körperliche Erfahrung der Extraklasse. Mitgröhlen, dass es lauter nicht geht, Text, Parole, Schlachtruf, ganz egal. Wenn man dazu dann noch richtig abrocken kann, ist das ECHTE Lebendigkeit.

Die Musik hat mir gezeigt, dass meine Wut Berechtigung hat und ich nicht alleine bin mit meinem WARUM. Sie verhalf mir dazu, andere und mich selbst besser zu verstehen und mir selbst treu zu bleiben. Unter anderem durch Musik bin ich innerlich enorm gewachsen. Ohne sie fehlt mir etwas Existentielles im Leben. Sie hat direkten Einfluss auf meinen Gemütszustand, sie gehört einfach zu mir. Wenn ich Musik höre, die ich gut kenne, ist das so vertraut, wie heimkommen.

Warum bin ich heute nicht mehr wütend? Es gibt viele Gründe. Ich habe verstanden, dass nichts bleibt, wie es ist. Auch Schreckliches vergeht und täglich passieren wundervolle Dinge. Unfassbar viele Menschen bemühen sich für eine bessere Welt. Ich stehe klar auf deren Seite und fühle mich längst nicht mehr schuldig. Und auch wenn wir an uns selbst scheitern werden, wird sich die Welt weiterdrehen und kann vielleicht wieder zu dem Paradies werden, das sie einmal war.

Hast Du Dich einmal gefragt, ob Du wütend bist, was Dich wütend macht und wie Du damit umgehen kannst? Wut ist wichtig. Wie kannst Du sie ausleben und verarbeiten? Welches ist Dein Ventil?

Wir verdrängen gerne, dass wir verantwortlich sind für unser Tun. Anstatt den Ausstieg aus der Misere zu planen, planen wir lieber den nächsten Urlaub. Wir bilden uns ein, wenn wir uns die Augen zuhalten, werden wir nicht gesehen. Manchmal meldet sich die blanke Angst, sie macht uns blind für das Wesentliche. Deshalb Resignation? Ein Wutausbruch trifft oft die Falschen, also lieber stillhalten und abwarten, wie das Kaninchen vor der Schlange?

Oder lieber einmal kurz ausflippen, bspw. hiermit: Limp Bizkit „Break Stuff“

 

Musik ist meine Droge, Therapie und Tagebuch. Dafür lebe ich und dafür werde ich niemals zu alt sein. Ich finde, sie hat enorme Macht über unsere Gefühle und kann absolut manipulativ sein. Hast Du schon einmal einen Thriller oder Werbung tonlos gesehen? Der Effekt ist gleich null und die Spannung um ein Vielfaches gesenkt. Musik durchströmt mich und kann mich komplett vom Hocker reißen. Wenn ich einen geliebten Song jahrelang nicht höre, liegt das evtl. an einer schmerzhaft schönen Erinnerung, die ich damit verknüpfe. Ich liebte unter anderem schwer eingängige Songs, mit emotionalem Tiefgang. Mit der heutigen Rückschau, kann ich sie gut hören, ohne emotional zu zerfließen. Das zeigt mir, dass ich aus den damaligen Gefühlen herausgewachsen bin. Trotzdem werden sie immer ein Teil von mir sein. Tagebuch eben.